Der geheime Wunsch
eine Fligi-und-Drachi-Geschichte
„Juhuuuu!“, brüllte Fligi und drehte vor lauter Freude einen Looping in der Luft.
Drachi grinste. „Da haben wir wohl noch jemanden in der Familie, der für die Drachenflugspiele übt.“
„Ja, und sie beschwert sich nicht einmal über die Kälte, obwohl es eisig ist“, fügte Pfluffi hinzu.
Fligi landete neben den beiden Drachenjungen und lachte.
„Ihr habt Recht, es ist echt furchtbar kalt. Aber heute Abend, zwischen den Feuern und all den anderen Drachen, da wird es kuschelig warm. Endlich ist wieder Nacht der Geschichten. Meine allerliebste Lieblingsnacht im ganzen Jahr.“
„Darfst du wieder erzählen?“, fragte Drachi seine Schwester.
„Ja!“ Fligi nickte fröhlich.
„Das ist ja schon eine richtige Tradition, dass du auf den Erzählstein darfst“, stellte Pfluffi fest. „Was erzählst du denn?“
„Überraschung“, raunte sie geheimnisvoll und zwinkerte den beiden zu.
Als es dunkel wurde und die Sterne über dem Drachenwald funkelten, gingen die Schmauchifauchis zusammen mit Pfluffis Familie zu den Felsen, wo jedes Jahr die Nacht der Geschichten stattfand. Sie waren früh dran und halfen deshalb, die Feuer zu entzünden, die lebendig wirkende Schatten auf die großen Felsen um sie herum warfen. Während sich der Platz mit Drachen füllte, fiel auf einmal etwas Kaltes auf Fligis Nase. Eine Schneeflocke! Und dieser ersten Flocke folgten viele weitere, die zwischen den knisternden Feuern still zu Boden tanzten.
Fligi war so versunken, dass aie nicht mitbekam, wie Opa Albikurt den Erzählstein betrat „Heute war der kürzeste Tag des Jahres. Ab morgen werden die Tage langsam wieder länger, und das feiern wir mit unseren Drachenfeuern“, eröffnete er die Nacht der Geschichten mit den gleichen Worten jedes Jahr. „Ich darf nun unsere jüngste Erzählerin bitten, dieses Fest zu eröffnen.“
Er lächelte Fligi zu, die aufstand und nach vorne ging. Dieses Jahr war sie nur noch ein bisschen aufgeregt. Immerhin war es jatzt schon das dritte Mal, dass sie bei der Nacht der Geschichten zusammen mit all den großen Drachen erzählen durfte. Sie kletterte auf den Stein und schloss für einen Moment die Augen, um die Geschichte vor ihrem inneren Auge lebendig werden zu lassen.
„Das Märchen, dass ich euch heute erzähle, habe ich ‚Der geheime Wunsch‘ genannt“, begann Fligi. „Es war einmal und es war keinmal eine Wasserfee. Sie lebte an einem Teich mit einer Quelle. Das Wasser aus dieser Quelle war kein gewöhnliches Wasser, es war verzaubert: Wenn man davon trank, konnte man anderen ins Herz schauen und sehen, ob ein Geheimnis darin verborgen war. Eines Tages kamen drei Drachen an die Quelle, zwei große und ein kleinerer Drache. Sie hatten einen langen Flug hinter sich und waren durstig. Als sie sich zur Quelle beugten, um daraus zu trinken, tauchte die Wasserfee vor ihnen aus dem Teich. ‚Halt!‘, rief sie, ‚überlegt euch gut, ob ihr dieses Wasser trinken wollt. Denn danach könnt ihr gegenseitig in eure Herzen sehen und die Geheimnisse darin erkennen. Vielleicht erfahrt ihr Dinge, die ihr gar nicht wissen wollt. Ich habe es schon erlebt, dass sich Freunde zerstritten haben, nachdem sie aus dieser Quelle getrunken haben, weil sie voreinander Dinge geheim gehalten hatten.‘ Die drei Drachen waren jedoch so durstig, dass sie trotzdem tranken. Danach blickten sie sich an. Sie waren ihr Leben lang Freunde gewesen und konnten sich nicht vorstellen, dass es etwas gab, dass sie voreinander verbargen. Als die beiden großen Drachen jedoch in das Herz des kleinen Drachen sahen, waren sie überrascht, denn sie sahen darin ein Leuchten hinter einem Schleier. Es war ein milchiges Licht, das aussah, wie der Mond in einer Nebelnacht. Erstaunt fragten sie ihn, was er in seinem Herzen trug, von dem er ihnen nichts verraten hatte. Der kleine Drache seufzte und antwortete: ,Ich singe gerne und habe mir so viele Lieder ausgedacht, aber ich hatte Angst, dass sie euch nicht gefallen oder dass ihr über meine Stimme lacht. Deshalb singe ich nur, wenn ich allein bin.‘ Die beide großen Drachen baten ihn, ihnen eins seiner Lieder vorzutragen. So begann kleine Drache zu singen, erst leise und schüchtern, dann immer kräftiger und leidenschaftlicher. Er hatte eine bezaubernde Stimme und die Lieder, die er sich ausgedacht hatte, waren wundervoll. Die großen Drachen staunten, ebenso wie die Wasserfee, die von dem Gesang so berührt war, dass sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischen musste.
Wer weiß, ob jemals jemand von dem Talent des kleinen Drachen erfahren hätte, wenn sie nicht aus der Quelle der Wasserfee getrunken hätten.
Man darf eben nie vergessen, dass in jedem ein verborgenes Talent steckt.“
Einen langen Moment blieb es still. Fligi fragte sich schon, ob den Drachen die Geschichte nicht gefallen hatte. Aber sie stellte fest, dass ein paar von ihnen sich ebenfalls Tränen aus den Augen wischten, wie die Wasserfee in der Geschichte. Dann brandete der Applaus wie eine warme Welle über sie hinweg. Sie war glücklich, dass sie selbst die Gelegenheit hatte, zu zeigen, was sie im Herzen trug, und ihrer Familie und nun auch schon zum dritten Mal vor allen anderen Drachen ihre Geschichten erzählen zu können.
Sie verbeugte sich und hüpfte selig vom Erzählstein, direkt in die Arme von ihrem Opa, der sie kurz drückte und dann sanft auf den Boden setzte, bevor er selbst auf den Stein stieg. Fligi hörte in dieser Nacht noch unzählige Geschichten, und obwohl es die längste Nacht des Jahre war, ging sie viel zu schnell vorbei.